Felice Varini kommt ursprünglich von der Malerei. Statt der aufgezogenen Leinwand, bevorzugt der Schweizer Künstler urbane Oberflächen als Bildträger seiner farbintensiven Eingriffe. Fassaden, Mauern, Türme, Strassen und Wände sind das häufigste Bezugsfeld für seine raumgreifenden Installationen.
Varinis urbane Malerei entwickelt sich in Auseinandersetzung mit dem spezifischen Ort. Sie macht die Massstäblichkeit einer urbanen Situation, deren Historie und Funktion, aber auch deren Blickachsen und räumliche Relationen sichtbar.

Für die Stadt Kirchheim unter Teck realisiert Felice Varini eine ortsbezogene Malerei mit dem Titel «Douze points pour six droites» / «Zwölf Punkte für sechs Geraden». Den Ausgang bilden 12 Punkte im Stadtraum, von denen reflektierende Metallbänder in unterschiedlicher Breite diagonal über Hauswände, Giebel und Dächer gezogen werden, um sich optisch zu einem sternartigen Gebilde zu vereinen.
Die Anordnung der Farbbänder erfolgt nach einem ausgeklügelten perspektivischen Prinzip, das Varini über viele Jahre für seine raumbezogenen Arbeiten entwickelt hat. Dabei bedient sich der Künstler der Technik der anamorphosen Illusion, die vor allem im Barock beliebt war, um geheime und verbotene Botschaften mitzuteilen. So gibt es auch bei Varini immer nur einen spezifischen Blickwinkel (point of view), von dem aus die «komplette minimalistische Gestalt» bzw. das «vollständige Bild» gesehen werden kann. Beim Verlassen dieses Blickpunktes zerfällt es in einzelne Farbformen, die beim Durchqueren der Innenstadt auf den öffentlichen Flächen wie versprengte Fragmente eines grossen Puzzles auftauchen.

Pro Helvetia
© Foto: Clerin/Morin
Felice Varini "Douze points pour six droites“, Site-specific, Kirchheim unter Teck, 2022